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Maria | *1937

Familienfrau und Näherin

Er verabschiedete sich unter der Tür mit den Worten: "Mami du bist die Beste

Man hat keine Spur von ihm gefunden. 

Eine reife Frau blickt auf ihr Leben zurück

Meine Mutter Anna hatte eine grosse Jugendliebe. Sepp. Anna kam aber gleich nach der Schule zum Wittwer Gottlieb und seinen drei Kindern in den Haushalt. Wie es damals üblich war, nahm er sie gleich zur Frau. Sepp zog in seinem Kummer in die Innerschweiz und versuchte meine Mutter zu vergessen. Ich kam als viertes Kind von Anna und Gottlieb zur Welt. Es folgten noch fünf weitere Kinder. Das heisst, ich wuchs mit drei Halbgeschwistern und fünf Geschwistern auf.  ​ Meinen Vater lernte ich nicht richtig kennenlernen, denn er verstarb in der Nacht zu meinem dritten Geburtstag. Ich trage aber ein Leben lang ein Bild von ihm und mir, das meine Mutter bestätigte. Vater Gottlieb wiegte mich als Baby auf den Armen durchs Wohnzimmer und fütterte mich mit Beeren aus einer Schüssel vom Stubentisch. Ich hatte als Säugling eine seltene Gichterkrankung und konnte nur Heidelbeeren im Magen behalten. Die Beeren linderten meine Schmerzen und retteten mir das Leben, sagte man.  Meine Mutter war mit dem sechsten Kind schwanger bei Vaters Tod. Sie führte den Hof mithilfe des ältesten Bruders alleine weiter. Wir mussten natürlich alle mit anpacken. Um dazuzuverdienen, nahm ich als Jugendliche eine Arbeit als Stickerin an. Im Betrieb, in dem ich arbeitete, gab es eine kleine Gaststube. Der Käser Werner war ein treuer Gast, warb um mich und wir heirateten bald.  ​ Aus dieser Ehe sind vier Kinder geboren. Diese machten mich sehr glücklich, mein Gatte nicht. Seine Untreue belastete mich, ich erlaubte mir als gläubige Katholikin aber nicht, ihn wegzuschicken. Er war ja schliesslich der Vater der Kinder und ich traute mir nicht zu, sie wie meine Mutter alleine grosszuziehen. Als ich nach einer Erschöpfung ins Müttergenesungswerk kam, unterstützten mich die Schwestern, die krankmachende Situation zu verlassen. Die katholische Kirche löste die Ehe auf. Werner besuchte mich aber immer wieder. Ich liess ihn aus Barmherzigkeit in einer Kammer ausserhalb des Hauses übernachten. Den Vater meiner Kinder vor die Hunde gehen zu lassen, brachte ich nicht übers Herz. ​ Als Näherin in Heimarbeit bestritt ich die Existenz meiner Familie. Obwohl es schwierig war, hatten wir auch ohne Vater ein schönes Familienleben. Ich spielte Gitarre und sang viel mit den Kindern. Wir wurden für Theater und Musik von der Kirche engagiert. Meine Schwester meinte einmal, es sei langsam Zeit, dass ich wieder etwas für mich tue und unter die Leute käme. Sie schleppte mich zum Tanz mit. Dort setzte sich Ruedi einfach zu uns an den Tisch. Und er wich seither nie mehr von meiner Seite.   ​ Wir heirateten. Ruedi nahm meine Kinder ohne weiteres an und war ihnen ein lieber Vater. Als unsere gemeinsame Tochter Anna-Maria zur Welt kam, machte er keinen Unterschied zwischen seinem leiblichen Kind und den anvertrauten. In diesen Jahren erfüllte sich auch für meine Mutter unerwartetes Glück. An der Klassenzusammenkunft traf sie ihre Jugendliebe Sepp zum ersten Mal nach all den Jahrzehnten wieder. Es funkten zwischen den beiden sofort wieder. Er hatte sein Leben lang auf sie gewartet. Sie heirateten und ihnen waren noch zehn glückliche Jahre beschieden.  ​ Irgendwann ereilte mich die Nachricht, dass mein erster Gatte mit seiner neuen jugoslawischen Frau in den Balkan gereist war und aus mir unbekannten Gründen auf offener Strasse erschossen wurde. Auch wenn er ein Hallodri war, diesen Tod hat er nicht verdient.  ​ Ich lernte zeitlebens mit schwierigen Situationen und Verlusten umzugehen, doch das Verschwinden meines einzigen Sohnes Herbert ist und bleibt meine grösste Herausforderung. Er war Mitte zwanzig, als er zu einer Ferienreise nach Spanien aufbrach. Er verabschiedete sich von mir unter der Tür mit den Worten: «Mami, du bist die Beste!» Ich gab ihm den Segen auf den Weg, er drehte sich um und lächelte mir zu. Das ist das Letzte, was ich von ihm habe. Er ist einfach verschollen. Man fand nie eine Spur von ihm. Die Ungewissheit, ob das Kind lebt oder verunfallt ist, ist etwas vom Schlimmsten, was eine Mutter zu ertragen hat. Ohne meinen lieben Mann Ruedi und meinen tiefen Glauben, hätte ich all die Jahre nicht überstanden. Ich wurde katholisch erzogen und ich halte mich noch heute an die Rituale, die mir ein wichtiger Anker sind. Jeden Abend bete ich drei Rosenkränze und gebe jedem Liebsten, auch den Verstorbenen, Weihwasser.  ​ Ruedi und ich kamen vor ein paar Jahren gemeinsam ins Altersheim, weil er nicht mehr selbständig zu Hause leben konnte und ich nicht von ihm getrennt sein wollte. Im nächsten Frühjahr wären wir fünfzig Jahre verheiratet gewesen. Wir waren sehr glücklich. Ich möchte das Zimmer nicht wechseln, weil er immer noch ein wenig im Raum ist. Im Herzen habe ich ihn ja sowieso. Genauso wie meinen Vater und meinen Sohn.  ​ Ich habe einen schönen Kontakt mit meinen Kindern und Enkeln. Am nächsten ist mir meine Schwester, mit der ich täglich telefoniere und mit der ich alles Erlebte teilen kann. Ich sage oft zu ihr, wie dankbar ich trotz allem für mein reiches Leben und die lieben Menschen um mich herum bin. Ich lebe gerne. Das ist mir noch einmal bewusst geworden im November 2020, als ich nach Tagen mit hohem Fieber erwachte. Ich kann nicht sagen, ob es Covid war oder nicht. Meine Angehörigen sagten, dass ich nicht mehr ansprechbar gewesen wäre und dass mein Leben an einem seidenen Faden gehangen hätte. Ich erhaschte tatsächlich einen Blick ins Paradies. Denn es erfüllt mich heute immer noch, wenn ich daran denke: Ich fand mich am Ende eines Tunnels von warmem, leuchtenden Licht eingehüllt. So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen und empfunden.  ​ Und doch bin ich glücklich, wieder hier zu sein und meine Familie ein Stück weit noch zu erleben und zu begleiten. Jetzt weiss ich mit Gewissheit, dass uns etwas Prächtiges erwartet.  2021 ​

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