„Und jetzt?“, fragte ich mich am Tiefpunkt in Amman.
Ich tat, was ich immer tue, wenn ich nicht mehr weiter weiss, ich berief meinen inneren Rat ein. Der setzt sich aus Verstand, Intuition, Körper, Herz und meinen Schutzengeln zusammen.
Der Körper meinte schlaff: „Ich muss dringend aus dem Moloch und brauche Bewegung und frische Luft.“
Die Intuition flüsterte: „Ich möchte südwärts Richtung Madaba, fühlt sich dort gut an.“
Der Verstand plusterte sich wie immer auf: „Wir geben doch jetzt nicht so schnell auf. Und überhaupt, du bist noch keinen einzigen Meter auf dem Jerusalemweg gegangen. Wie stehst du denn da, wenn du unverrichteter Dinge zurückkehrst?“
Das Herz pochte tapfer: „Ich hab zwar etwas Bammel, aber eigentlich spüre ich, dass die Reise noch nicht fertig ist.“
Die Engel rauschten mit ihren Flügeln und lächelten und ich wusste Bescheid. Ich kann weiterhin auf sie zählen.
Gegen einen einstimmigen, zuversichtlichen Rat hatte Frustliese keinen Stich. Ich bestellte ein Taxi, das mich zu Ammans Stadtrand fuhr, denn entlang der sechsspurigen Stadtautobahn wollte ich nicht meine erste Etappe starten.
Am Ausgangspunkt stieg ich aus, prüfte den Sitz der Wanderschuhe, schulterte den Rucksack und checkte mein Navi nach dem Wegverlauf des Jerusalemwegs. Ich war goldrichtig und marschierte frohen Mutes und mit der Unterstützung meines ganzen Teams los. Als ich nach wenigen Metern den rot-weiss-roten Aufkleber des Pilgerweges an einer Laternenmast leuchten sah, frohlockte ich. Gutes Zeichen.
Die zwölf Kilo auf dem Rücken bescherten mir zu Beginn etwas Schieflage und schnitten ungewohnt auf den Schultern ein. Aber schon bald spürte ich das Gewicht nicht mehr und ich kam in einen flotten Schritt. Ein süsses Mädchen warf mir vom Balkon eine Kusshand zu und rief: „I love you!“ Das verlieh mir Flügel und ich schickte ihr einen Liebesgruss zurück. Die zwanzig Kilometer führten durch Siedlungen und Weideland.
Die erst Rast hielt ich auf einem Steinhaufen und war in Gesellschaft von einem Schäfer und seinen Ziegen, die friedlich grasten. Plötzlich traten zwei Männer aus einem der Häuser vorsichtig auf mich zu. Sie mochten mir Angst einjagen, aber es hätte sich noch nie eine Touristin in die Gegend verirrt. Mein Rat meinte einstimmig „vertrauenswürdig“ und wir hatten einen netten Austausch über unsere unterschiedlichen Leben. Später überholte mich ein Pick-up, in dem ein älteres Paar sass, hielt an, die Frau stieg aus und umfasste meine Rechte mit ihren beiden Händen. „Welcome! Coffee?“ war das Einzige, was ich verstand. Ich bedankte mich und verneinte höflich, weil meine Wanderlust gross war.
Die einzige Bedrohung waren Hunde, die Siedlungen und Viehherden bewachten. Ist ja ihr Job, aber für mich sehr unangenehm, weil sie zum Teil sehr aggressiv und unberechenbar waren. Den Pfefferspray, den ich immer auf mir trug und die Steine am Weg fand ich zu brutal und nur für den äussersten Notfall. So schnappte ich mir kurzerhand einen abgebrochenen Pfahl vom Wegrand, der mir aber Splitter bescherte.
Ein Palmwedel wurde mein treuer Begleiter. Er steckte griffbereit hinten im Rucksack und lag geschmeidig und schnell in der Hand. Es gelang mir damit tatsächlich allen Kläffern Paroli zu bieten, bevor es zum Nahkampf kam. Madaba erreichte ich am späteren Nachmittag schweissgebadet aber in einem Glücksrausch. Frust und Unwohlsein der Nacht hatten sich mit dem Gehen in Luft aufgelöst!
Ich übernachtete in Madaba und trat den Weg nach Mount Nebo mit Lust und Zuversicht an. Die ersten Kilometer führten wieder durch Siedlungen und Weideland wie die erste Etappe, aber mit mehr Höhendifferenzen. Irgendwann verdichteten sich die Hügelzüge und ich kam zum Eingang eines kleinen Tals. Die Luft roch plötzlich ranzig. Hühnermist?! In der Tat, ich machte unzählige Geflügelzuchtfabriken aus, die an den Hängen wie klebten. Als ein Hund sein Territorium lautstark zu verteidigen begann, stimmten plötzlich Dutzende in das Gejaule ein. Ich konnte nicht ausmachen, welcher frei herumläuft und welcher angebunden war. Da musste ich mitten durch! Ich schnappte mir den Palmwedel und zusätzlich einen Stein für alle Fälle. Und oh Wunder, ich kam heil und schnellen Schrittes durch die Talenge und am Stall vorbei.
Als ich mich in Sicherheit fühlte, konsultierte ich das Navi. Mist aber auch! Ich hatte den linken statt den rechten Pfad der kleinen Schlucht gewählt. Die Richtung stimmte, aber auf der falschen Talseite. Zurück zu den Kläffern wollte ich auf keinen Fall. Also stieg ich zum ausgetrockneten Bachbett hinunter und kraxelte den steilen Anstieg auf der anderen Seite hinauf. Wie war ich glücklich über meine Wanderstiefel, die mir seit über zehn Jahren zuverlässig Trittsicherheit und Blasenfreiheit schenken. Sie und meine Füsse sind ein eingespieltes Team. Und ich platzte fast vor stolz, dass ich trotz des Gewichtes am Rücken den steinigen Hang so locker schaffte.
Zum Mittag hielt ich in einer alten Ruine Pause. Ich hüpfte einen kleinen Triumpf Tanz und feierte den Sieg über Schweine- und andere Hunde, die Aussicht auf das kleine Tal und die Sonne im Gesicht. In Mount Nebo erwarteten mich das gelobte Land, eine Überraschung und drei herzliche Mönche.
16.-18. März 2023
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