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Elfriede | 1933-2022

Bäuerin, Mutter, Winzerin, Reisende

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Ich brauche nicht mehr zu reisen, ich habe mein Kopfkino. Ich habe so viel von der Welt gesehen und sage es allen: 

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"Zieht hinaus in die Welt, solange ihr könnt!"

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Elfriede in ihren besten Jahren

Elfriede kam 1933 im Kantonsspital Schaffhausen zur Welt. Wie ihre Mutter Hilda hingekommen wäre, wüsste sie nicht. Man hätte früher nicht so ein Tamtam ums Kinderkriegen gemacht wie heute. Man wurde einfach schwanger und bekam ein Kind. Heute erkläre ja man den Kindern alles. Kein Wunder sagte ein Urenkel, dass es viel gescheiter wäre, ein Kind zu kaufen, als es so kompliziert zu machen. In einem kleinem Reiatdorf wuchs Elfriede als Älteste von vier Geschwistern in einfachen Verhältnissen auf. Ihr Vater Gottlieb war Landwirt und Förster. Er, der als Verdingbub zu drei «Ledigen» nach Altdorf kam, war knorrig, wortkarg und fühlte sich im Wald am wohlsten. Er versteckte vor seiner Familie, dass er keine richtigen Zähne hatte und als Elfriede ihm beim Waschen über dem Becken in der Küche zusah und es herausfand, bekam sie von ihm eine Ohrfeige. Mutter Hilda stammte aus der deutschen Enklave Wiechs aus einem Gasthaus. Der eine Onkel war ein Nazi. Bei ihm mussten die Kinder «Heil Hitler» sagen. Vom Wirtshaus und Grossmutter Hilda stammt das Rezept vom legendären Kartoffelsalat. Wenn sie wüsste, dass sich ihre Urenkel davon die Bäuche vollschlagen. Das einfache Leben an der grünen Grenze, die deutsche Anverwandtschaft, Entbehrungen, Gehorsam und Auswirkungen der beiden Weltkriege prägten Elfriedes Kindheit. In der Familie kennt jeder die Geschichte von Schaffhausens Bombardierung. Elfriede war elf, als sie am ersten April 1944 auf dem Heimweg war und mitbekam, dass die Stadt bombardiert worden war. Das Mädchen rannte nach Hause und erzählte es der Mutter. Hilda gab ihr eine schallende Ohrfeige und meinte: «Über so etwas macht man keine Aprilscherze.» Französische Soldaten und jüdische Flüchtlinge versteckten sich an der grünen Grenze in Grossvaters Wald. Mutter Hilda kochte ab und an Suppe und hiess die elfjährige Elfriede mit dem warmen Topf schnell zum Wald zu laufen. Ob sie denn keine Angst gehabt hätte vor den Fremden. «Ich habe damals nicht zu viel nachgedacht, habe gemacht, was Mutter mich geheissen hat. Und den Menschen hat man halt die Not etwas lindern müssen. Man hat sie ja nicht bei sich aufnehmen können.» Elfriede besuchte acht Jahre die Dorfschule in Altdorf. Alle Schüler sassen im selben Schulzimmer in Jahrgangsreihen. Kam man in die nächste Klasse, rückte man eine Bank nach hinten. Sie mochte den Konfirmandenunterricht und das Singen bei Lehrer Hauser. In dieser Zeit lernte sie unzählige Lieder aus dem Gesangsbuch auswändig. Nach der Schule kam sie als Kindermädchen zu einer Familie nach Lohn, was eine Stunde Fussweg von zu Hause bedeutete. Erst als Elfriede in der Gemüserüsterei der Suppenfabrik Knorr Thayngen arbeitete, bekam sie ein gebrauchtes Velo. Das verdiente Geld musste sie zu Hause abgeben. In den Klettgau kam Elfriede mit einundzwanzig, weil sie ein Inserat gelesen hatte, dass in einem Gasthaus mit Metzgerei ein Mädchen gesucht wurde. Sie bekam ein Zimmer unter dem Dach, durch das der Wind pfiff. Im Winter fror die Wolldecke am Bettgestell fest und das Fenster war voller Eisblumen. Pauline führte das Szepter der Wirtschaft, jagte das Mädchen in den Keller Wein zu holen, Wäsche zu waschen und in der Küche zu rüsten. Paulines träfer Spruch hielt sich über Generationen: «Me lauft nie lääar». In einem grossen Haus gibt es immer etwas von einem Ort zum anderen zu tragen. Elfriede bediente auch im Restaurant. Vereine kehrten ein und am Sonntag die Männer nach der Kirche zum Frühschoppen. Paul, ein geselliger Landwirt, war mit den Kollegen der Bürgermusik Stammgast. Elfriede und Paul verliebten sich, heirateten im Januar 1955 im Schnee und wurden im Lauf der nächsten elf Jahre Eltern von fünf Kindern. Die junge Elfriede wurde nicht mit weiten Armen auf dem Pfyfferhof willkommen geheissen. Die Schwiegereltern Paul und Elsa, die im obersten Stock lebten, und auch die weite Verwandtschaft mischten sich immer in das Leben der jungen Familie ein. Da der Ätti Kantonsrat und Gemeindepräsident war, war im Pfyffer ein «Gläuf». Und es war klar, dass man gegen aussen tadellos auftreten musste. Denn, was würden denn sonst die Leute denken! Grossmutter Elsa lauschte mit, wenn im unteren Gang am Wandtelefon gesprochen wurde. Sie schleckte ungeniert aus den Kochtöpfen der Schwiegertochter und fand es eine Geldverschwendung, Geranien als Schmuck an die Fenster des Pfyffers zu hängen. Elfriedes Kreativität und Schaffenskraft fand im Dorf mehr Anerkennung als bei den ihren unter dem Dach. Auch Hilfe. Als Paul einmal von einem Rindli umgeworfen wurde und mit einer bösen Hirnerschütterung ins Spital musste, waren es Männer aus dem Dorf, die die Bäuerin und Mutter von fünf Kindern in der Not unterstützten. Der Ätti machte derweilen wahrscheinlich Politik. Fünf Kinder grosszuziehen ist ja schon eine grosse Sache. Elfriede arbeitete im Stall und Feld und legte einen grossen Gemüse- und Blumengarten an. Die Beeren im Frühsommer wurden zum Eldorado für Kinder und Enkel. Das Blumenmeer schmückte Hof und Stöckli und war ein Fundus für Vereinsfeste der umliegenden Dörfer. Ihre grosse Liebe galt den Rosen. Die Rosenschere lag immer auf der Ablage beim Küchenfester. Als diese einmal ein Jahr lang spurlos verschwunden war, war Elfriede untröstlich. In den langen Wintermonaten hörte die tüchtige Bäuerin Schallplatten, nähte, strickte und flickte Kleider für die Kinder. Aus den Stoffresten schneiderte sie Puppenkleider. Für den Zustupf der Familie und für ein eigenes Geld, arbeitete Elfriede immer auch noch auswärts. Die ersten Jahre im Service, später verkaufte sie Zuchtchampignons im Dorf, sortierte Setzlinge bei einer Baumschule und in einer Weinkelterei arbeitete sie in den Reben oder schenkte Wein an Degustationen aus. Die Reben waren Elfriedes Wellness. Dort konnte sie ungeniert ihren Gedanken nachhängen, hatte Ruhe vor den Schwiegereltern oder hörte DRS1 aus dem kleinen Transistorradio im Schurz, wo auch die Rebringe Platz hatten. Kinder und Enkel fanden es todlangweilig, die schulfreien Nachmittage in den Reben zu verbringen und ihre Passion wollte Elfriede vergeblich ihren Schwiegertöchtern beibringen. Die Reben brachten jedoch jeden Herbst die Sippe zusammen. Aus allen Ecken der Schweiz strömten die Verwandten zum «Herbsten». Im Rebberg und Chilstieg hockte man sich zum Zmittag ans Böörtli und wärmte die kalten Finger an den Schüblingen. Und an Elfriedes Härdöpfelsalat gab es nichts auszusetzen. Der älteste Sohn trat in die Fusstapfen der Eltern und lernte Landwirt. Als er eine eigene Familie gründete, war es für Elfriede klar, dass sie nicht mit den Jungen unter einem Dach leben wollte. So kam es, dass das Stöckli gebaut wurde und die Grosseltern umzogen. Die fünf Kinder wurden flügge und brachten ihre Schätzli nach Hause. Elfriede und Paul mochten sie mehr oder minder, doch verwehrten sie keinem die Tür. Als sich im Lauf der Jahre drei von fünf von ihren PartnerInnen scheiden liessen, bedauerten Elfriede und Paul den Abgang, fuchtelten aber nie mit der Moralkeule. Menschen kommen und gehen. Das ist halt so im Leben. Mehr als zwanzig Jahre standen Hof, Familie und Dorfleben im Zentrum von Paul und Elfriede. Es war ihnen nicht möglich, Ferien zu machen. Anfang der Achtziger setzte sich Elfriede durch und sagte: «So jetzt möchti ich au moll zwei Wuche wäg!» Der erste Winterurlaub setzte den Markstein für ein Ritual. Ab dann war es in Stein gemeisselt, dass Elfriede und Paul die ersten zwei Wochen im Jänner mitere Blootere vo Chind und Enkel in die Berge fuhren. Elf Enkel und vier Urenkel sind aus dem "Rebstock" Paul & Elfriede entstanden. In der Stube standen Kisten mit Duplos und Zämäsetzli für die Kleinsten immer parat. Der rote Bobbycar war über die Jahrzehnte verblichen, aber hielt alle wilden Fahrten der Enkel und Urenkel aus. Grosis Öpfelringli und Gartentee aus Pfeffermünz und Zitronenmelisse bleiben in der Familie legendär. Ein Mädchen im Dorf hatte am selben Tag Geburtstag. So wie die Kinder früher Verbot hatten, im Migros-Wagen zu posten, um dem Dorfladen keine Konkurrenz zu machen, gab es wohl in dieser Bauernfamilie den Bananenboykott. Man isst, was hier wächst. So schenkte Elfriede dem Mädchen zum Geburtstag einen Bund Bananen. Was Elfriede den Namen Bananenfrau einbrachte. Reisen mit dem Bauernverband wurden zur Passion von Elfriede und Paul. Mit ihm kamen sie nach Südafrika, Neuseeland, Australien, Texas, Kanada und in ganz Europa herum. Die Fotos füllen ganze Alben. Sie sagte in den letzten Lebensjahren: «Ich brauche nicht mehr zu reisen, ich habe mein Kopfkino. Ich habe so viel gesehen von der Welt. Und sage euch allen: zieht hinaus, solange ihr könnt!» Über die Jahre gab es Zipperlein und Schrunden, aber ernsthaft krank war das Bauernpaar nie. Als Elfriede 2004 an Darmkrebs erkrankte, stand für einen Moment die Welt still. Sie wurde wie durch ein Wunder wieder gesund und durfte mit Paul im Januar 2005 die goldene Hochzeit im Kreis ihrer Liebsten feiern. Nur kurz darauf wurde auch bei Paul Darmkrebs diagnostiziert. Fivatter, wie er inzwischen von den Enkeln genannt wurde, erholte sich nicht. Sein Abschied zog sich über zwei Jahre, die er nutzte, um alles zu regeln. Dass er am 5. November 2008 im eigenen Bett sterben durfte, war für alle eine Gnade. Elfriede sagte: «Am Anfang war es schwierig. Ich vermisste Paul sehr. Einmal erschien er mir im Traum und umarmte mich. Seither geht es besser. Ich rede mit ihm in Gedanken. Gehe nicht auf den Friedhof und brauche das Grab nicht. Am meisten vermisse ich ihn, wenn Urenkel da sind. Er würde sich zu ihnen auf den Boden legen und mit ihnen Lego spielen und herumalbern. Als ich das mal sagte, meinte der schlaue Urenkel: «Wir können ihn doch auf dem Friedhof ausgraben und holen.» Nach Pauls Tod freute sich Elfriede über die grosse Familie, die sie im Stöckli besuchte. Und vom Ständchen, das die Bürgermusik ihr zum Geburtstag spielte, zehrte sie lange. Bis 2021 konnte sie sich noch selber um ihren Garten kümmern. Als sie nicht mehr gut auf den Füssen stand, traf man sie in der Hollywoodschaukel, von wo sie den Blumentisch, Felder und die Leute auf der Strasse beobachtete. Das wäre ihr Schönwetter-Fernseher. Im Haus hockte sie bis zum letzten Tag in im Schneidersitz im legendären abgeschossenen Sessel mit der Häkelüberzug. Den gab Elfriede um keinen Preis her. Neben dem Stuhl stand immer eine Flasche Mineral und ein Halbliter. Alle kennen ihren Spruch: «Trink ein Glas Wein, dann bist du nie allein.» Und alle wissen, dass es zum Schluss mehr als ein Glas war. Auf ihrem Schoss lag jeweils ein Holzbrättli mit Bauernmalerei, ein Kreuzworträtsel und die Fernbedienung. Sie schaute viel fern. Am liebsten mochte sie Reisesendungen und sagte jeweils: «Log emoll. Do bini au scho gsii» Als es diesen Sommer n Portugal 47 Grad gab, sagte sie: „Ja, das ist schlimm. Aber es gab schon immer Katastrophen auf der Welt. Früher haben wir einfach nicht davon erfahren.» Und es müssen ja Menschen auch sterben, sonst hätte es ja gar keinen Platz mehr auf der Welt. Elfriede hatte auch immer eine Nagelfeile in Greifnähe. Ihr waren akkurate Fingernägel wichtig. Manche konnte sie mit dem Geräusch des Nägelfeilens beim Gespräch zum Wahnsinn treiben. Eine Spitexfrau trieb sie zur Weissglut, als diese ihr einfach ihre «heiligen Nägel» abschnitt. Diese Frau wollte sie nie mehr sehen. Elfriede lobte die Spitex (Pflege zu Hause), die sie in den letzten Monaten täglich aufsuchte und das Bleiben im Stöckli ermöglichte, hoch. Sie sagte es jedem, der sie besuchte, manchmal nicht nur einmal: «D’Spitex isch scho e gueti Sach!» Ende Juli sagte sie: «Ich mag nümme.» Am 23. August siedelte sie in die Altershaamet ins Nachbardorf. Schon bald liessen ihre Moral und auch ihre Kräfte nach. Sie war ja nur noch Haut und Knochen. Und doch gab es auch immer wieder Zwischenhochs und sie ging noch am Rollator ins Kafi zum Zmittag. Elfriede redete offen über ihren Glauben. Sie machte kein grosses Brimborium darum herum und sagte auch, sie sei nicht frommer als andere. «Für mich gibt es eine höhere Macht, die alles lenkt. Kein Mensch kann über sein Leben bestimmen und keiner weiss, wie es auf der anderen Seite aussieht. Jeder soll sich, so gut es geht, ein schönes Leben machen.» Sie ging zur Kirche der Gemeinschaft wegen und mochte es, mit dem jeweiligen Pfarrer einen schönen Schwatz über Gott und die Welt zu halten und zu beten. Die letzten Tage verbrachte sie im Bett, manchmal schwer schnaufend, manchmal unruhig sich die Decke von den Beinen strampelnd. Manchmal gelüstete es sie nach einem Kafi oder Gomfibrot. Am Nachmittag vor dem Abflug sass die jüngste Tochter noch an ihrem Bett, streichelte ihre Hand und sang Lieder, die die Mutter ihren fünf Kindern gesungen hatte. Sie reckte sich dem Duft von Rosenblättern und Salbei entgegen, die die Tochter aus dem Garten in ein Stofftaschentuch gefaltet, ihr unter die Nase hielt. Beim Abschied ging die Sonne über dem Tal als rote Kugel unter und warf ein warmes Licht ins Zimmer. Um elf Uhr in der Nacht reiste sie bei hellem Vollmond zu Fivatter durch die Nacht. Immer wieder hatte Elfriede gesagt: «Ich möchte am liebsten am Morgen nicht mehr erwachen.» Ihr letzter Wunsch wurde ihr erfüllt. Den vollständigen Regenbogen, der sich beim Gang zum Begräbnis über das Klettgau-Tal spannte, deutet die Familie als letzten Gruss der Familienmutter: "Ich bin gut angekommen!" RIP hat für die Nachkommen eine neue Bedeutung: Rosenblüten in Pfefferminztee Für unsere Mutter im Dezember 2022

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