Im Juli 2022 erreichte mich ein Anruf mit österreichischer Vorwahl. Eine wohlklingende, sympathische Frauenstimme meldete sich. Den Akzent konnte ich nicht auf Anhieb verorten. " Hallo, ich heisse Shokhan, bist du die Frau, die Biografien schreibt? Meine Gesangslehrerin hat dich mir empfohlen." Ich horchte auf, eine Empfehlung ist immer ein guter Einstieg und ich fragte die Unbekannte, was ich für sie tun könnte. Nach wenigen Sätzen klärten sich Akzent und Anliegen. Shokhan lebt als irakische Kurdin in Wien und möchte ihre Geschichte erzählen. Das Telefonat markierte den Anfang einer Freundschaft und für mich als Autorin begannen Recherche und eine Zeitreise durch die Geopolitik der letzten Jahrzehnte. Manche Nächte konnte ich nicht schlafen, weil ich die Bilder der Kriegsgräuel nicht aus dem Kopf brachte. Und manches Mal bäumte sich in mir eine Wut auf Machthaber und Propaganda auf. Shokhans Geschichte ist ein konkretes Zeitzeugnis einer Frau, die sich von Kindheit an in den patriarchalen und religiösen Strukturen, egal ob im Orient oder Okzident, für ihre Werte behaupten musste. Für dasselbe fundamentale Menschenrecht gehen tapfere Frauen und Männer seit Wochen im Iran auf die Strasse: Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit.
Shokhans Manuskript ist fertig. Ich bin über die Punktlandung vor meiner Reise in den Orient sehr glücklich. Die Geschichte darf nun die richtigen Verlagspartner finden.
Ich sehe die goldenen Berge - Shokhans Geschichte
Shokhan kommt 1980 als älteste von fünf Kindern in der nordirakischen Stadt Sulaimaniya zur Welt. Nach dem Tod des Grossvaters reisen Eltern mit den Geschwistern überstürzt nach Europa und lassen die Erstgeborene bei Grossmutter Daya zurück. Das Mädchen betrachtet oft den im Abendlicht golden leuchtenden Gebirgskamm im Norden der Stadt. Wo dahinter mochte ihre Familie jetzt wohl leben? Ihre Onkel kämpfen mit den Peshmerga in den Bergen für ein autonomes Kurdistan und sind Zielscheibe des irakischen Regimes. Nach Giftgasangriffen flüchtet Daya mit der Enkelin in den benachbarten Iran, wo sich die beiden vor der Sittenpolizei in Acht nehmen müssen, aber zum Glück Zuflucht bei Verwandten finden. Mit den Golfkriegen verschärft sich die Situation der Kurden und demzufolge auch die Existenznot von Grossmutter und Enkelin. Der Vater steht eines Nachts plötzlich vor der Tür. Die Dreizehnjährige muss sich innert Stunden zwischen einem sicheren Leben im unbekannten Österreich und dem bedrohlichen Alltag bei der geliebten, aber betagten Daya entscheiden.
Niemand wartet in der neuen Welt auf Shokhan. Die Kluft zwischen ihr und der Eltern ist zu gross, um in der eigenen Familie eine neue Heimat zu finden. Als hätte die Jugendliche nicht schon genug Baustellen mit ihrer körperlichen Veränderung und dem familiären Bruch, muss sie sich als Fremde mit einer neuen Sprache, Rivalitäten, einem anderen Schulsystem und der Berufswahl auseinandersetzen. Es erstaunt wenig, dass sie in schlechte Gesellschaft und an Substanzen gerät, die ihr helfen, der nackten Realität zu entfliehen. Shokhan wird Heroin abhängig und landet tief verschuldet am Rand des Abgrunds. Dank eisernem Willen, Musik, spirituellen Erfahrungen und Hilfe von Freundinnen schafft es Shokhan schliesslich über einen langen, steinigen Weg zurück ins Leben.
Shokhans Biografie ist eine Motivationsgeschichte. Sie zeigt auf, dass liegenbleiben keine Option ist. Shokhan sieht sich nie als Opfer, sondern sucht und findet unter allen Umständen Kraftquellen, die sie anzapfen kann und ihr helfen, sich aufzurichten und in kleinen Schritten ihren Lebenszielen entgegenzugehen. Shokhan kennt Orient und Okzident und versteht sich als Brückenbauerin zwischen den Kulturen. Als Frau, als Kurdin und als «Free Spirit» erlebt sie, was es bedeutet, in patriarchalen Strukturen ihre höchsten Werte zu verteidigen und bis heute hochzuhalten: Würde, Selbstbestimmung und Freiheit.
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